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Zur ‚Verortung‘ des deutschen Imperialismus
Was hat Koblenz mit dem Kolonialismus zu tun? Wer genauer hinschaut, wird in so gut wie jeder deutschen Stadt Spuren des Kolonialismus finden. Was sich in Koblenz finden lässt, wird auf diesen Seiten gesammelt, präsentiert und kritisch gedeutet. Man kann die Frage aber auch generalisierend stellen: Was hat im Kontext des Kolonialismus das Lokale mit dem Globalen zu tun? Warum führt die Frage nach dem Erbe und dem Nachleben des Kolonialismus heute nicht nur zum Blick auf die weltpolitischen Strukturen und Machtverhältnisse, sondern auch zum Blick auf deren lokale Spuren und Manifestationen? Die Antwort darauf hat auch mit der Tatsache zu tun, dass die koloniale Expansion, die historisch erst ermöglicht und hervorgebracht hat, was wir heute ‚Globalisierung‘ nennen, immer schon und von sich aus einen besonderen Bezug zum Lokalen hatte. Es gibt in der Geschichte des modernen Kolonialimperialismus einen strukturellen Zusammenhang zwischen Expansion und Kontraktion, zwischen der Eroberung des Fremden und der Neuentdeckung des lokal Eigenen, zwischen „Kolonie und Heimat“. Dieser Zusammenhang wird im Folgenden kurz skizziert.
Lange wurde behauptet, dass Deutschlands Kolonialgeschichte ‚nur‘ drei Jahrzehnte Bestand hatte – von 1884 bis 1914. Nur in dieser Zeit gab es formale deutsche Kolonien in Afrika und Asien. Erst verspätet sei Deutschland echte Kolonialmacht geworden und habe seine ‚kolonialen Gebiete‘ mit dem Ersten Weltkrieg auch rasch wieder verloren. Alle anderen Phasen der deutschen Geschichte – so die lange vorherrschende Auffassung – hätten mit dem weltumspannenden System der kolonialen Expansion Europas nichts zu tun gehabt. Übersehen oder kleingeredet wurde dabei, dass auch in den deutschen Staaten das Streben nach einer kolonialen Expansion seit dem 18. Jahrhundert präsent war, dass das Deutsche Reich von 1871 nur knapp 15 Jahre brauchte um zu drittgrößten Kolonialmacht der Welt zu werden, und dass der Kolonialgedanke auch nach dem Ersten Weltkrieg politisch wie gesellschaftlich populär blieb, auch im NS gefördert wurde und noch weite Teile des entwicklungspolitischen Engagements der Bundesrepublik prägte. Als politisch-ideologisches Projekt hat der Kolonialismus also auch in Deutschland eine sehr viel längere Geschichte, die weit über die 30 Jahre formalen Kolonie-Besitzes hinausgeht.
Und gerade in dieser Perspektive wird deutlich, dass der deutsche Kolonialismus keineswegs, wie in Schulgeschichtsbüchern immer noch oft zu lesen, aus einem übertriebenen, gesteigerten oder radikalisierten Nationalismus herrührte; dass das treibende Moment kolonialer Expansion also der nationale Machtstaat gewesen sei, der, einmal nach innen gefestigt, sich nun auch nach außen im Konkurrenzkampf mit den anderen etablierten Kolonialmächten beweisen wollte. Eine solche Begründung kolonialer Expansion lässt sich zwar bei Staatsoberhäuptern wie Bismarck oder Wilhelm II bisweilen finden. Faktisch aber gingen Kolonialbestreben und praktische Kolonialpolitik immer von lokalen Interessen aus, die erst nachträglich in einen nationalen Legitimationshorizont gestellt wurden. Es war der Hamburger Kaufmann Lüderitz, der um staatlichen Schutz seiner Handelsniederlassungen im heutigen Namibia bat, woraus die Kolonie Deutsch-Süd-West wurde. Und es war der Privatmann Carl Peters, der ohne jeden offiziellen Auftrag mit zwei Freunden durch das heutige Tansania und Ruanda reiste, um obskure ‚Verträge‘ mit willkürlich ausgewählten ‚Eingeborenen‘ zu machen, woraus die Kolonie ‚Deutsch-Ost‘ hervorging.
Auch die Kolonien selber werden in der heutigen Erinnerung, etwa auf entsprechenden Karten, immer noch und völlig unrealistisch als klar voneinander abgegrenzte nationale Räume präsentiert: meist in rot die britischen, in grün die französischen und in blau die deutschen ‚Besitzungen‘. Faktisch aber war der koloniale Raum kein territorialer, sondern ist eher als ein verstreutes und höchst lückenhaftes Netzwerk von Garnisonen, Stützpunkten und lokalen Herrschaftszentren zu beschreiben, deren Einfluss sich entlang wechselnder Expeditionsrouten bis zu den nächsten Stützpunkten erstreckte, aber keinen flächendeckenden Herrschaftsraum bildete. Es war gerade diese dezentrale Form kolonialer Herrschaft, die dazu führte, dass sie in den einzelnen lokalen Stützpunkten und ihrem Umland so gut wie unkontrolliert und mit einem Höchstmaß an Gewalt umgesetzt wurde. Auch in den Selbstdarstellungen und Erinnerungen der aktiven Kolonisatoren spielt die Kolonie als Ganzes oder als in sich geschlossener nationaler Besitz so gut wie keine Rolle. Vielmehr beschreiben sie die koloniale Erfahrung als eine Erfahrung der völligen Entgrenzung: räumlich, politisch und moralisch. An einem bestimmten Punkt in einem scheinbar endlosen Raum unbeschränkte Macht ausüben zu können – eben das war die Erfahrung, die die kolonialen Aktivisten auch über die politisch-räumliche Struktur der eigenen nationalen Heimat in einer neuen Weise nachdenken ließ.
Diejenigen, die vor Ort kolonialpolitisch aktiv waren, suchten auch zu Hause Kontakt zueinander und nannten sich gegenseitig „Afrikaner“. Während in den populären Darstellungen des kolonialen Alltagslebens, wie es etwa die Wochenschrift „Kolonie und Heimat“ den Deutschen näherbringen wollte, die Kolonisierten häufig als „neue Landsmänner“ bezeichnet wurden – ein Begriff, der eher regionale als nationale Gemeinschaft markiert. Hierin spiegelt sich die doppelte Entgrenzung des nationalstaatlichen Raums durch koloniale Expansion: wer ‚deutsches Wesen‘ in völlig fremde Welten tragen und es dort mit allen Mitteln durchsetzen will, der verliert den Sinn für die strikt begrenzte politisch-partikulare Gemeinschaftsform der Nation und sieht statt des deutschen Staates überall nur noch den regionalen Kampf für und um das ‚Deutschtum‘. Das ist einer der Gründe, warum im kolonialen Diskurs die Nation bevorzugt als ‚Rasse‘ und ‚Kultur‘ gedacht wurde. Denn beide Begriffe scheren sich nicht um gesetzte Grenzen, sondern lassen sich sub- wie transnational anwenden, weshalb etwa der Kolonisator Car Peters den Kampf um das ‚deutsche Wesen‘ in Afrika mühelos mit dem langen Kampf der „deutschen Stämme“ um die deutsche Einheit als zwei Seiten ein und desselben Prozesses gleichsetzen konnte.
Wer den Blick einmal von der offiziellen Kolonialpolitik des Deutschen Reichs eine Ebene tiefer auf die gesellschaftspolitischen Manifestationen des Kolonialismus richtet, stößt auf ganz ähnliche Phänomene. In den populärkulturellen Darstellungen „unserer Kolonien“ in dieser Zeit ist ‚Heimat‘ der meist gebrauchte Begriff zur Kennzeichnung des Eigenen wie auch jener fremden Regionen, aus denen etwa die in Kolonialausstellungen zur Schau gestellten „neuen Landsmänner“ kamen. Zudem war es nicht etwa die Regierung in Berlin, sondern der Hamburger Zoobesitzer Carl Hagenbeck, der als erster diese Form der Ausstellung des ‚kolonialen Besitzes‘ entwickelte. Auch die deutschen Kolonialvereine Kolonialgesellschaften lebten vor allem von ihrer regionalen und lokalen Verankerung und auch Finanzierung, kaum von staatlicher Unterstützung. Der allergrößte Teil der Popularisierung und Bewerbung deutscher Kolonialpolitik fand auf regionaler, kommunaler und lokaler Ebene statt. Städte und Gemeinden feierten ihre kolonialen Helden, während allein die Berliner Kolonialausstellung von 1896 auch staatlich mitgetragen wurde – ihr Schirmherr aber war kein Vertreter der Nationalregierung, sondern Herzog Johann Albrecht zu Mecklenburg. Auch der Umstand, dass sich in dieser Zeit viele deutsche Kleingärtenanlagen die Namen deutscher Kolonien gaben, weshalb diese Anlagen etwa in Berlin noch bis kürzlich ‚Kolonien‘ genannt wurden, bezeugt die intrinsische Beziehung des Lokalen mit dem Kolonialen.
Das alles ist kein Zufall. Vielmehr muss entgegen der alten These, dass der Imperialismus nur ein wild gewordener Nationalismus gewesen sei, die Einsicht geltend gemacht werden, dass die koloniale Expansion nicht nur nach außen, sondern auch nach innen eine Entgrenzung darstellte. Sie war systematisch mit dem Versuch verbunden, nicht nur jenseits, sondern auch weit diesseits nationalstaatlicher Grenzen die Welt als einen beständigen Kampf der völkischen, rassischen, und kulturellen Gemeinschaften um Geltung und Existenzberechtigung zu denken, der gesetzte politische Ordnungen grundsätzlich transzendiert und wie ein Naturprozess überall stattfindet. Global, national, regional, lokal. Die damit verbundene Dynamisierung von Gemeinschaftsvorstellungen spielte nicht nur in der anschließenden Phase totalitärer und faschistischer Regime eine Rolle, sondern ist ein Phänomen, das sich unschwer auch heute wieder, nach dem Ende der Scheinordnung des Kalten Krieges, beobachten lässt. Je weiter die Globalisierung voranschreitet, desto mehr erheben sich lokale Stimmen, die sub- und transnationale Konzepte des ‚wahren Volkes‘, der ‚Kultur‘, der ‚Identität‘ oder des ‚Abendlandes‘ gegen die gesetzten nationalstaatlichen Ordnungen inklusive ihrer demokratischen Verfasstheit in Stellung bringen.
Ein kritischer postkolonialer Blick auf die Geschichte und Aktualität des kolonialen Erbes sollte sich daher nicht auf die lange tradierte Auffassung einlassen, der Imperialismus sei allein eine Sache staatlicher Außenpolitik gewesen. Ein Großteil seiner Dynamik stammte vielmehr aus jener doppelten Entgrenzung des Nationalen nach außen und innen, aus der Verknüpfung des Globalen mit dem Lokalen. Deshalb ist die Suche nach den Spuren des Kolonialismus etwa in einer Stadt wie Koblenz nicht nur ein erinnerungspolitisches Projekt, sondern betrifft ein Strukturelement des Kolonialismus, das gerade heute verstanden sein will.
